Lange Gewänder, T-Shirts und Leggings. Polyesteranzüge mit Rennstreifen. Und nackte Haut. An der Küste vor Alexandria sieht man alles. Nur keine Bikinis
Sommerfrische im ägyptischen Alexandria: 40 Kilometer Sand und Meer. Und jeder badet an seinem Platz
Julia Gerlach
Der Strandwärter rammt den Sonnenschirm in den Sand, schüttelt ein paar Körnchen von den Plastikstühlen. »Ein sehr schöner Platz.« Wirklich: In der ersten Reihe, direkt vor den Wellen, und nur eine Armlänge trennt uns von den neugierigen Nachbarn. Eine Großfamilie aus Kairo: Vater, Mutter, Großmutter und fünf Kinder. Vier Stühle wurden gemietet, man kann sich ja abwechseln. »Wir verbringen jeden Sommer in Alexandria. Hier ist es schön kühl, man kann sich amüsieren«, sagt die Mutter. Sie könne ja nicht mehr baden. Erklärend streicht sie über ihr Kopftuch. »Das sieht nicht gut aus, wenn es nass wird.«
Im Wasser herrscht Gedränge. Kinder hüpfen in der Brandung. Männer stehen bis zum Bauch im Wasser, unterhalten sich.
Auch Frauen baden.
Die langen Kleider kleben am Körper, wenn sie aus den Wellen auftauchen. Manche tragen auch TShirts und Leggings. Brüllend irren Kinder auf der Suche nach Eltern herum. In dem Gewirr aus Sonnenschirmen, Plastikstühlen und Gummitieren ist die Suche nicht leicht. Die Brandung betäubt die Ohren ebenso wie die hupenden Autos, die direkt hinter uns im Stau stehen. Schmal ist der Strand entlang der sechspurigen Corniche von Alexandria, an manchen Stellen sogar sehr schmal.
Ausländer sind an diesem Strand eine Sensation, so außergewöhnlich, dass uns alle anschauen, dann aber ganz normal behandeln. Wir fühlen uns wohl.
Direkt hinter der Corniche ragen weiße Hochhäuser in den Himmel. Da ständig mehr Menschen den Sommer in Alexandria verbringen und natürlich alle ein Appartement mit Meeresblick mieten wollen, werden die Häuser immer höher. Alexandria ist Ägyptens zweitgrößte Stadt: Sechs Millionen Einwohner im Winter - im Sommer sind es acht Millionen. Sechs Pfund kostet das Ticket für den Minibus von Kairo. Wer sie zusammenkratzen kann, macht sich auf den Weg.
Die Töchter der Nachbarin sind gerade vom Baden zurück. Sie wringen ihre Maxi-T-Shirts aus, bibbern und haben Hunger. Gefüllte Zucchini werden aus der Kühltasche geholt, zum Nachtisch gibt es Wassermelone. Wir bestellen währenddessen Kaffee. »Normal viel Zucker?«, fragt der Kellner. »Alles klar! Kommt sofort!« Bevor er zurückkommt, uns den Mokka serviert und dem Nachbarn zur rechten eine duftende Wasserpfeife vorbeibringt, tauchen Samach und ihre Schwester auf, zwei Mädchen in bunten Kleidern. In ihren Händen klickern Muscheln aneinander. »Ich sage dir deine Zukunft voraus«, bietet Samach an. »Gib mir deine Hand, lege eine Pfundnote hinein und sage: O Gott.« Sie steckt sich den Geldschein in den Ausschnitt und mustert meine Hand. Die Nachbarin ist dichter herangerutscht. Meine Zukunft, die will sie sich nicht entgehen lassen. »Dein Liebster ist weit weg«, sagt Samach und deutet aufs Meer. »Ich sehe noch etwas sehr Spannendes«, sagt sie, als sie bemerkt, dass ihre Aussage richtig ist. »Lege fünf Pfund auf die Hand und sage: O Gott.« Dafür liefert sie mir eine verworrene Geschichte über potenzielle Feinde. Die Erklärung der Geschichte würde zehn Pfund kosten, aber für das gleiche Geld könnte ich schon fast eine der Tischdecken kaufen, die ein junger Mann gerade vor mir ausbreitet. Oder ein T-Shirt mit bunten Tieren da-rauf. Das Shopping-Angebot ist gut. Walid und seine Cousins verkaufen getrocknete Seesterne für sieben Pfund: »Drüben am anderen Strand nehmen wir das Doppelte«, sagt er, als er meine krause Nase sieht. »Aber da sind ja auch andere Leute.«
Alexandria, das sind 40 Kilometer Strand, jeder Abschnitt fein sortiert nach gesellschaftlichen Schichten. Jener Streifen, an dem die Seesterne das Doppelte kosten, liegt im Park von Montaza. Hier hatte der letzte ägyptische König seinen Sommerpalast. Schon den Eintritt in den Park, vier Pfund pro Person, könnten sich unsere Nachbarn niemals leisten. Wir zahlen dann noch jeder 50 Pfund, um ein paar Stunden auf der Terrasse des Palästina-Hotels zu verbringen. Hier herrscht kein Gedränge. Man ist unter sich: Geschäftsleute und ein paar Ausländer. Die Geräuschkulisse wird nicht von Kindergeschrei bestimmt, sondern von Handy-Melodien. Als wir die Strandstühle mit den gemieteten Handtüchern gepolstert und uns ausgestreckt haben, ruft Usam an: »Ach, du bist am Strand. Was trägst du denn? Einteilig oder zweiteilig?« Na ja, einen Bikini dürfte man hier schon tragen. Das tut zwar keine der Damen, aber man könnte - schon diese Tatsache rechtfertigt das Eintrittsgeld.
»Als ich ein Mädchen war, habe ich auch solche Kleider getragen wie du«, sagt Um Mohammed, die Mutter eines Freundes aus Alexandria. »Viele Mädchen trugen Miniröcke, und wie heißen noch die Badeanzüge, wo man den Bauch sieht? Die waren damals modern.« In den sechziger Jahren nämlich. Damals hatte Gamal Abdel Nasser gerade den Sueskanal verstaatlicht, Ägypten wurde endgültig unabhängig, viele Ausländer verließen das Land. Alexandria, ein Jahrhundert lang Inbegriff des weltoffenen Mittelmeerlebens, gehörte wieder den Ägyptern. Griechische Kaffeehäuser, in denen Croissants und Cappuccino serviert werden, erinnern noch an diese Zeit. Kaum ein ausländischer Tourist besucht heute Alexandria. Ende der sechziger Jahre verschwanden Bikinis und Miniröcke, und auch Um Mohammed geht seitdem nicht mehr ohne Kopftuch auf die Straße.
Wenn Um Mohammed an den Strand will, fährt sie am liebsten nach Mamoura. Hier ist es nicht so voll wie an den Stränden direkt an der Corniche und auch nicht so langweilig wie im Palästina-Hotel. Mamoura, das war der erste Fluchtversuch der ägyptischen Oberschicht. Früher gab es auch in der Innenstadt exklusive Strandclubs. Nach Nassers Revolution 1952 begannen die Grenzen aufzuweichen: Plötzlich trauten sich auch Normalverdiener in die Enklaven der Reichen, sie brachten ihre gefüllten Zucchini mit, spuckten überall Melonenkerne aus. Stück für Stück zog sich die Oberschicht zurück, baute neue Strandclubs wie Mamoura mit einer Mauer drum herum. »Als wir vor 30 Jahren diese Wohnung kauften, konnte man hier das Meer sehen«, erzählt Herr Hegasy, der seit Jahrzehnten in Deutschland lebt und möchte, dass »die Kinder das Gefühl für meine Heimat Ägypten nicht verlieren«. Längst hat er sich von seinem Meeresblick verabschieden müssen: 15 Häuserreihen trennen ihn vom Strand. Außerdem fährt jetzt ein Minibus bis hinaus nach Mamoura, und schon beklagen alle den sozialen Niedergang des Feriengebiets.
Dennoch ist die Welt hier noch in Ordnung: Kinder kreisen mit Bonanza-Rädern auf sauberen Straßen, Hausmädchen beaufsichtigen kleine Mädchen beim Schwimmen, auf den Balkonen der dreistöckigen Häuser grillen Familien Kufta und Kebab. Rechtsanwälte, Ärzte und Professorinnen verbringen hier ihre Ferien.
Zum Sonnenuntergang raucht man eine Wasserpfeife und schaut aufs Meer oder geht in der kleinen Fußgängerzone einkaufen: Dieses Jahr sind Plateaubadelatschen modern. Cremig-rosa müssen sie sein und eine Blume auf der Lasche haben. Made in Egypt natürlich. Ebenso wie die Badeanzüge, die es hier zu kaufen gibt. Die Kopftuchträgerin möchte schließlich auch schwimmen gehen und dabei gut aussehen. Gut 60 Pfund kostet der schwarze langärmlige Polyesteranzug, die Hose reicht bis zum Knöchel. Pink Rennstreifen verzieren die Schultern. Für weitere sechs Pfund gibt es noch eine Haube dazu. »So kann jede anständige Frau schwimmen gehen«, versichert die Verkäuferin. Allerdings muss sie einräumen, dass der züchtige Anzug jede Speckfalte nachzeichnet.
Zeit für einen Besuch bei Mr. Mango, dem Kellner. Sein Arbeitsort: das Café von Stanley, dem spannendsten Strand von Alexandria. Stanley verdankt seinen Ruf den Strandkabinen: In großem Bogen säumen die weißen Balkone mit den türkisfarbenen Kabinentüren die Bucht, direkt unterhalb der Corniche. Eigentlich muss man die Kabinen für eine ganze Saison mieten. Aber Mr. Mango lässt mit sich reden: »50 Pfund, und du kannst machen, was du willst!« Das ist ein Angebot! Unglaublich, in einem Land, in dem ein unverheiratetes Paar nicht im gleichen Hotelzimmer übernachten darf. Die Kabinen sind winzig, gerade genug Platz für ein Sofa. »Ist das dein Freund?«, will Mr. Mango wissen, auf den Fotografen deutend. »Nein? Aber was wollt ihr dann hier?« Er ist verwirrt. Ausländer sind irgendwie komisch.
Noch edler als in Stanley aber geht es in Marina zu. Ein nobles Feriendorf - Zutritt hat nur, wer hier wohnt oder eingeladen wird. Üppiges Grün umgibt die Villen aus Naturstein, die zwischen einer und zwei Millionen Pfund kosten. Kilometerweit zieht sich der Strand. Jugendliche flitzen mit Jetskis vorbei. Auch hier blubbern die Wasserpfeifen, und die livrierten Kellner bringen Eiscreme bis ans Wasser.
Aber wer so wohlhabend ist, könnte überall auf der Welt Urlaub machen. »Wieso fahren Sie bloß immer nach Alexandria, Mr. Hassan?« Der Geschäftsmann und Familienvater überlegt, lässt den Blick über den Strand von Marina schweifen. Schön ist es hier, fast so schön wie am Roten Meer, aber eben nur fast: »Ich glaube, wir Ägypter sind einfach lieber unter uns. Verstehen Sie mich nicht falsch, wir lieben Ausländer und Touristen. Aber als wir mal am Roten Meer waren, hat sich meine Frau geärgert, dass ich immer den Ausländerinnen im Bikini nachgeschaut habe. Und ich fand es ätzend, mein Essen auf deutschen Speisekarten aussuchen zu müssen.«
Der Standwärter kommt, um nachzuschauen, ob wir zufrieden sind: »Ja, sehr. Aber was bedeutet die schwarze Fahne da? Darf man nicht schwimmen?« Der Strandwärter schaut mich an, mustert das Gedränge im Wasser und blickt dann zur Fahne, die neben dem Hochsitz des Rettungsschwimmers flattert: »Ali, hol sofort die Fahne runter, sonst traut sich die Ausländerin nicht ins Wasser!«
Auskunft: Ägyptisches Fremdenverkehrsamt, Kaiserstraße 64 a, 60329 Frankfurt am Main, Tel. 069/25 21 53 oder 25 23 19
(Artikel aus der Zeit Archiv 34/2000
http://www.zeit.de/archiv/2000/34/sp_mm_alexandria.xml)